Walz, Tippelei, Wanderjahre – gleich mehrere Begriffe gibt es für die Zeit, in der junge Handwerker nach ihrer Gesellenprüfung durch die Lande ziehen und dabei wichtige Erfahrungen sammeln. Ihre Ursprünge hat diese Tradition im 12. Jahrhundert. Vom Spätmittelalter bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die Walz sogar Voraussetzung dafür, dass ein Geselle seine Meisterprüfung beginnen durfte.
In den 1970er Jahren waren Wandergesellen eine echte Seltenheit, mittlerweile ist ihre Zahl wieder angestiegen. Während die einen als Freireisende unterwegs sind, schließen sich andere Handwerkervereinigungen an, sogenannten Schächten, von denen einige auch Frauen aufnehmen. Eine davon ist Wiktoria, die seit Ende April bei dem Dachdecker- und Zimmermeister Thomas Gutwin wohnt und arbeitet. "Ich bin Tischlerin auf Wanderschaft, komme aus der Niderlausitz und bin bei 'Axt und Kelle' organisiert."
Dieser 1982 gegründete Schacht ist ein eingetragener Verein, bei dem Handwerker aus dem deutschsprachigen Raum, aus Benelux, Frankreich und Dänemark auf die Walz gehen. "Der Schacht bietet einem ein Netzwerk aus Leuten, bei denen man sich melden, arbeiten und schlafen kann", berichtet die 23-Jährige. Nach ihrem Abitur hatte sie zunächst eine Ausbildung zur Tischlerin gemacht, weil sie die Wartezeit zu ihrem geplanten Psychologie-Studium sinnvoll überbrücken wollte. "Während der Ausbildung habe ich allerdings schnell gemerkt, dass mir das Handwerkliche sehr gut gefällt und das Sich-selbst-etwas-Beibringen überhaupt nichts für mich ist." Daher fasste sie den Entschluss, nicht zu studieren, sondern stattdessen auf Wanderschaft zu gehen.

Nach Soest kam sie eher zufällig. "Vor Kurzem bin ich mit einem Wandergesellen gereist, der Thomas Gutwin kannte. Er war selbst schon dort, denn Thomas ist bei Wandergesellen bekannt und auch sehr beliebt, und wollte mir den Betrieb und die Stadt zeigen", erinnert sie Wiktoria. "Da es mir hier so gut gefallen hat, habe ich direkt nach Arbeit gefragt und bin geblieben. Während ihrer Zeit bei dem Meisterbetrieb aus Soest-Röllingsen hat sie unter anderem mitgeholfen, einen historischen Holzbogen von 1747 am Gemeindehaus der Evangelischen Kirchengemeinde St. Andreas in Soest-Ostönnen zu montieren.
"Die Walz ist eine gute Möglichkeit, andere Arbeitsweisen und -techniken kennenzulernen, sich mit anderen Gesellen auszutauschen und einfach mal über den Tellerrand zu schauen", findet Thomas Gutwin. Diese Erfahrung hat auch Walerie gemacht, die ihren längsten Aufenthalt in Weimar hatte, wo sie denkmalgestützte Dachstühle saniert hat. Dabei hat die 23-Jährige festgestellt, dass ihr das Arbeiten als Zimmerin auf Baustellen viel mehr Spaß macht als die Möbeltischlerei.
Als Freireisender ist der 36-jährige Markus unterwegs, der ebenfalls bei Thomas Gutwin Station gemacht, dort für zwei Wochen gewohnt und tatkräftig mitangepackt hat. Im Anschluss an den Aufenthalt in Soest geht's für den Oberbayern, der mittlerweile seit sechs Jahren und vier Monaten unterwegs ist, ins Wendland. "Dort habe ich eine Verabredung, jemanden nach Hause zu begleiten", erzählt Markus. In acht Wochen möchte er selbst wieder zu Hause sein. "Dann schaue ich mal, was auf mich zukommt. Zu tun gibt es überall genug." Besonders in Erinnerung geblieben ist Markus seine Zeit im Ahrtal. "Dort habe ich in der Fachwerksanierung gearbeitet und das war wunderbar."

Zu einem "Dauergast" bei Thomas Gutwin ist mittlerweile der 32-jährige Emanuel geworden. "Ich war fünf Jahre und zehn Monate auf Wanderschaft und habe mir jetzt überlegt, erst einmal bei Thomas zu bleiben und hier fest zu arbeiten", berichtet der Schreiner aus Schwäbisch-Hall. Thomas Gutwin, der nicht nur Dachdecker- und Zimmermeister, sondern auch Restaurator im Zimmererhandwerk ist, unterstützt wandernde Gesellen und gibt ihnen Unterkunft mit Familienanschluss und Arbeit, denn zu tun hat der Soester Betrieb reichlich und daher freut er sich immer über engagierte Fachkräfte.